Interview mit einer Schulpsychologin

29/08/2012

«Wir sind keine Reparaturwerkstatt»

Als Schulpsychologin bekommt es Catherine Paterson mit Anwälten und Dolmetschern zu tun.
Mit Catherine Paterson sprach Beat Metzler

Frau Paterson, über Schulpsychologinnen kursieren einige Vorurteile. Darf ich drei aufzählen?

Bitte.

Sie verteilen ständig Ritalin.

Das ist ein verbreiteter Irrtum. Wir haben Psychologie studiert, sind keine Mediziner. Nur solche dürfen Medikamente verschreiben. Wenn sich ein Kind unruhig verhält, prüfen wir zuerst, was sich in der Umgebung verbessern lässt.

Sie schreiben vor allem Berichte.

Falsch. Ich bin ständig unterwegs, um in den Schulhäusern mit Kindern zu sprechen oder Lehrer zu beraten. Wir Schulpsychologinnen und Schulpsychologen pflegen den Kontakt zu vielen Beteiligten, wir bilden eine Schnittstelle und haben ein grosses Netzwerk.

Das letzte Vorurteil: Die Schulpsychologie pathologisiert die Kinder. Und liefert ihnen so eine Entschuldigung für ihr Verhalten.

Das Gegenteil trifft zu. Wir arbeiten ressourcenorientiert, suchen also die Stärken der Kinder. Es geht nicht darum, ein Kind mit einer Diagnose abzustempeln, sondern, es zu verstehen. Was braucht das Kind, um besser zu lernen? Was hilft ihm, weniger Angst zu haben? Um dies zu erreichen, müssen wir auch immer das ganze Umfeld analysieren.

Letzte Woche war Schulbeginn. Haben Sie besonders viel zu tun?

Es kommt vor, dass Kinder nicht in den Kindergarten oder die Schule gehen wollen. Solche Trennungsängste am Anfang sind nichts Dramatisches.

Ihr Büro ist voll Spielsachen, sogar einen Sandkasten gibt es. Wieso?

Wenn Kinder Mühe haben, sich auszudrücken, lasse ich sie im Sandkasten oder mit Fingerpuppen spielen. Das bietet weitere Ausdrucksmöglichkeiten. Die Kinder kommen aber meistens gerne hierher, die Eltern weniger.

Warum?

Sie halten uns fär so etwas wie eine Arztpraxis. Und sehen den Besuch als Niederlage. Dabei haben wir das gleiche Ziel wie sie: das Wohl des Kindes.

Weshalb benötigen Kinder schulpsychologische Hilfe?

An oberster Stelle stehen Lern- oder Leistungsschwächen. Es folgen psychische Belastungen wie Stress und Ängste. Dann kommen soziale Schwierigkeiten. Eine Studie besagt, dass 22 Prozent der Zürcher Kinder unter psychischen Problemen leiden.

Wieso sind es so viele?

Ich weiss es nicht genau. Sicher verfügen wir heute über mehr Möglichkeiten, Schwierigkeiten zu erkennen. Früher glaubte man etwa, Kinder könnten nicht unter Depressionen leiden. Gewisse Schüler schob man in Sonderklassen ab, heute können wir ihnen helfen.

Immer?

Manchmal reichen wenige Gespräche, einige Schüler begleite ich dagegen vom Kindergarten bis zur Lehre. Viele vermittle ich weiter. Meistens bewirken die Fördermassnahmen Fortschritte.

Gibt es auch hoffnungslose Fälle?

Einige Kinder haben es sehr schwer. Die Eltern haben kaum Zeit für sie, sie leiden unter Lernstörungen, sind verhaltensauffällig. Es kann sehr lange dauern, bis sich solche Situationen bessern. Wir sind keine Reparaturwerkstatt.

Belasten Sie solche Geschichten?

Sehr. Bei harten Schicksalen fühlt man sich teils hilflos. Da ist es wichtig, sich mit einem guten Team beraten und privat abschalten zu können. Das gilt auch für mein Spezialgebiet, das Krisenmanagement.

Was machen Sie da genau?

Ich betreue unter anderem Schulklassen nach gewalttätigen Vorfällen. Vor einiger Zeit wurde in meinem Schulkreis Waidberg eine Schülerin umgebracht. Wir gingen zu zweit in die betroffene Klasse, trauerten mit den Kindern und erklärten ihnen, wie Menschen auf solche traumatische Ereignisse reagieren.

Sie haben in einigen Schulkreisen gearbeitet. Wie sind die Unterschiede zwischen den Quartieren?

Gross. In manchen sitzt der Anwalt mit am Tisch, in anderen der Dolmetscher. Ersteres ist nicht sehr angenehm. Im Schulkreis Waidberg haben wir die ganze Bandbreite an Familien.

Unter welchen Problemen leiden heutige Kinder besonders?

Bei vielen Jugendlichen stelle ich eine starke Verunsicherung in Bezug auf die Lehrstelle fest. Sie stehen unter grossem Druck und befürchten, nichts zu finden. Sie haben Mühe, sich für bis zu 100 Bewerbungsschreiben zu motivieren. Und geben frühzeitig auf.

Aus dem Tages-Anzeiger (26.8.2012)

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